Niemals Frieden? Israel am Scheideweg
Das Massaker vom 7. Oktober 2023 mit der Ermordung, Schändung und Entführung jüdischer Menschen. Das ungewisse Schicksal der entführten Geiseln. Das Leiden ihrer Familien. Die Bombardierung und Abschnürung des Gazastreifens. Das Sterben von abertausenden Zivilisten auf Seiten der Palästinenser. Raketen auf Israel. Eskalation ohne Ende?
Vor diesem aktuellen Hintergrund war am 17. Mai 2024 in der Nicolaischen Buchhandlung der israelische Historiker Moshe Zimmermann, em. Professor für moderne Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem, Gast unseres Fördervereins. Zimmermann, geboren 1943 in Jerusalem, Sohn Hamburger Juden, die der Shoah in Palästina entkamen, einer der international besten Kenner der deutsch-jüdischen Geschichte, stellte im Gespräch mit der Vorsitzenden unseres Förderverein Dr. Katrin Grüber sein neues Buch „Niemals Frieden? Israel am Scheideweg“ vor. Das kurz zuvor im Propyläen Verlag erschienene Werk Moshe Zimmermanns, Gründungsmitglied unseres Fördervereins, war bereits nominiert für den Deutschen Sachbuchpreis.
Was ist das Anliegen seines neuen Buches? Zimmermann betonte, dass es insbesondere an die deutsche Öffentlichkeit gerichtet sei. Er wolle nach dem Massaker vom 7. Oktober die komplexe Lage in Israel historisch fundiert erklären. Der linksliberale Historiker – der bereits seit über fünfundzwanzig Jahren eindringlich vor den Gefahren einer Eskalationspolitik immer mehr nach Rechts driftender israelischer Regierungen gewarnt hat – betonte, dass die von ihm vertretenen Positionen zunehmend in eine Minderheitsposition geraten seien. Zimmermann legte dar, dass die Regierung Netanjahu zunehmend zu einer „Kakistokratie“, einer Herrschaft der Schlechtesten, geworden sei: Korruption, der Versuch das Oberste Gericht zu entmachten, um sich dessen rechtsstaatlichen Sanktionen zu entziehen, eine immer aggressivere Unterstützung ultraorthodoxer, nationalreligiöser und fundamentalistischer Kreise, schließlich, die eskalierende Kriegsführung mit sehr vielen zivilen Opfern und ohne absehbares Ende präge ein desaströses Bild. Kritiker dieser Politik würden oftmals als „Linke“ oder „Spinner“ abgetan und diffamiert. Netanjahu und seine z.T. rechtsradikalen Minister, die ihr Handeln, stets mit der Sicherheit Israels rechtfertigt hätten, hätten sich indes als unfähig erwiesen genau diese zu gewährleisten.
Das Massaker vom 7. Oktober habe in aller Deutlichkeit offengelegt, dass das Gegenteil der Fall sei. Das Wüten der Hamas-Terroristen habe sich nicht im den besetzen Gebieten ereignet. Ermordet, vergewaltigt und entführt wurde auf israelischem Staatsgebiet. Damit sei ein fundamentales Versprechen des Zionismus – wir bieten Schutz für bedrohte Jüdinnen und Juden aus aller Welt – gebrochen worden. Zimmermann betonte in Abgrenzung zu aktuellen postkolonialen Strömungen und Polemiken gegen Israel, dass die Gründung des Landes keineswegs eine „siedlerkoloniales Projekt“ gewesen sei. Der Zionismus sei aus der Auseinandersetzung mit der antisemitischen Verfolgung in Europa erwachsen, der Weg nach Palästina habe das Ziel verfolgt, eine nationale Heimstätte für die verfolgten Juden zu finden. Die mit Billigung der Vereinten Nationen, inklusive der Sowjetunion, erfolgte Gründung des Staates Israel habe dem Ausdruck verliehen. Angesprochen auf das Diktum, Israels Existenz sei Teil der „Deutschen Staatsräson“, betonte Zimmermann, dass dies sinnvollerweise nicht zu einer militärischen Involvierung Deutschlands im Nahen Osten führen dürfe. Gefordert sei vielmehr eine „Politik der Disziplin und des Friedens“ für die Sicherheit Israels und seiner Nachbarn.
Befragt nach dem Modell der Zweistaatenlösung betonte Moshe Zimmermann, dass die Vorstellung der Netanjahu-Regierung, man könne die Interessen der Palästinenser ignorieren, zerplatzt sei. Das habe der 7. Oktober für jeden gezeigt. Es gebe keine Alternative dazu, auf ein friedliches Zusammenleben mit den Palästinensern – auch wenn dies momentan vielen illusorisch erscheine – hinzuwirken. Zimmermann betonte, dass ein formelhaftes Bekenntnis zu einer Zweistaatenlösung unzureichend sei. Unter Bezugnahme auf den in New York lehrenden Philosophen Omri Boehm sprach er vom Ziel einer „Selbstbestimmung im Rahmen einer binationalen Föderation mit den Palästinensern“. Das sei zweifellos eine Mammutaufgabe, die man zwar leicht als Illusion abtun könnte (wie es die Scharfmacher aller Seiten täten). Die Alternative wäre ansonsten jedoch ein Krieg ohne Ende: „Freie Fahrt für weitere 7. Oktober, Afghanistan, Hiroshima.“ Angesichts dieser dramatischen Lage plädierte Zimmermann für einen „konstruktiven Pessimismus“. Sein kluges Buch leistet einen wichtigen Beitrag, die Lage in Israel besser zu verstehen. Ohne dies kann, auch von deutscher Seite, kein Beitrag zur Sicherheit Israels und seiner Nachbarn geleistet werden.
Bernward Dörner