Intentionen des Erinnerns in Israel und Deutschland
Unterschiede und Gemeinsamkeiten kollektiven Erinnerns standen im Mittelpunkt einer Veranstaltung unseres Fördervereins und des „Netzwerks Zeitgeschichte“ am 21. August 2023 in der Humboldt-Universität.
Über „Instrumente der Erinnerungspolitik in Israel und Deutschland“ referierte und diskutierte mit uns Prof. Moshe Zimmermann, Professor em. für Neue und Neueste Geschichte, einer der weltweit besten Kenner der deutsch-jüdischen Geschichte.
Er betonte zunächst einen wesentlichen Unterschied zwischen beiden Ländern: „Nie wieder!“ könne in Deutschland nur heißen „Nie wieder Täter sein!“ in Israel dagegen „Nie wieder Opfer sein!“
Als eine Gemeinsamkeit verwies er darauf, dass sowohl in Deutschland wie in Israel mit dem Wandel der Gesellschaft die Vermittlung eines kollektiven historischen Bewusstseins schwieriger geworden sei.
Dies gelte insbesondere für Israel, eine hochrangig von Migration geprägte Gesellschaft mit unterschiedlichen Hintergründen und Betroffenheiten. Jüdinnen und Juden aus orientalischen Ländern, die keinen oder nur einen geringen familiengeschichtlichen Bezug zur Shoah hätten, hätten einen anderen Blick auf den Mord an den europäischen Juden. Und dies gelte in noch viel höherem Maße für etwa 25 % der Staatsbürger Israels, die Araber seien. Ihre Perspektive auf den Genozid sei sehr unterschiedlich zur jüdischen. Ein weiterer Fakt, der die Vermittlung der Geschichte der Shoah erschwere, sei: Viele religiöse bzw. orthodoxe Juden sähen den Genozid weniger als ein singuläres „Ereignis sui generis“, sondern als ein Glied in einer Kette zahlreicher gegen das jüdische Volk gerichteter Vernichtungsversuche („Churban“).
Täterorte des Genozids, wie wir sie aus Deutschland kennen, kann es in Israel nicht geben. Yad Vashem stehe für den Gedanken des Widerstands gegen die Shoah, das „absolute Opfer sein“. Dabei stünden die Heldinnen und Helden des Aufstands im Warschauer Ghetto im Vordergrund. In Israel werde eine lange Traditionslinie des jüdischen Widerstands betont (u.a. unter Verweis auf den Bar-Kochba-Aufstand gegen die Römerherrschaft).
Dies könne dazu beigetragen haben, dass ein großer Anteil der israelischen Bevölkerung dem Versuch der Regierung Netanjahu, die Unabhängigkeit der Justiz in Fragen von Verfassungsrang auszuschalten („Staatsstreich“), ablehnt und zu Hundertausenden dagegen monatelang protestiert. Der Versuch Netanjahus, die Geschichte zu verfälschen (Motto: Der Großmufti von Jerusalem habe Hitler gewissermaßen auf die Idee des Genozids an den europäischen Juden gebracht), habe die Instrumentalisierungsabsicht der israelischen Rechten durch falsche Narrative deutlich werden lassen. Sie konstruiere historische „Mythen“ nach Bedarf, in diesem Fall: ‚Schuld an der Shoah sind eigentlich die Araber‘.
In der anschließenden Debatte wurde darüber diskutiert, inwiefern HistorikerInnen gegen den Mythen-Populismus einer Regierung ankommen können. Moshe Zimmermann räumte am israelischen Beispiel ein, wie schwierig dies sein kann.
Am Ende stehe aber stets das Bestreben – trotz alledem – gegen diese Tendenz Widerstand zu leisten.
Bernward Dörner