Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen

Meldungen

Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen

„Sachsenhausen mahnt!“ - Vor 60 Jahren wurde die Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen eröffnet

23. April 2021

Heute vor 60 Jahren, am 23. April 1961, wurde die Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen eröffnet. Der Staatsakt mit dem DDR-Staats- und Parteichef Walter Ulbricht an der Spitze, 1000 ausländischen Gästen und über 100.000 Teilnehmern war von der deutsch-deutschen Systemkonkurrenz und der Atmosphäre des Kalten Krieges geprägt und stand im zeitgeschichtlichen Kontext des Eichmann-Prozesses in Jerusalem, einer wachsenden Flüchtlingsbewegung aus der DDR und des Mauerbaus.

Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges nutzte die DDR-Staatsführung die Eröffnung der Gedenkstätte, um die DDR als Erbe des antifaschistischen Widerstandskampfes in den Konzentrationslagern darzustellen. Schließlich war Sachsenhausen die dritte KZ-Gedenkstätte auf dem Boden der DDR, während in der Bundesrepublik die erste KZ-Gedenkstätte erst 1965 in Dachau eröffnet wurde. Doch war bei der Eröffnungsfeier weniger von Opfern die Rede, umso mehr von der westdeutschen Bundesrepublik als vermeintlicher Fortsetzung des Nationalsozialismus und Bedrohung des Friedens. Bundesdeutsche Medien nahmen von der Eröffnung in Sachsenhausen kaum Notiz oder verwiesen auf das als "Kommunisten-KZ" bezeichnete sowjetische Speziallager.

Die aus zahlreichen Ländern angereisten ehemaligen Häftlinge fanden nach Jahren der Improvisation, Verwahrlosung und Umwidmung des Geländes einen würdigen Ort des Gedenkens und der Erinnerung an Terror und erlittenes Leid vor.

Lucienne Gouffault (1928-2020) begleitete ihren Ehemann, den französischen Sachsenhausen-Überlebenden und späteren Präsidenten des Internationalen Sachsenhausen Komitees Pierre Gouffault (1924-2009), zur Eröffnungsfeier. In einer Ansprache erinnerte sie sich 50 Jahre später an dieses Ereignis:

„Und endlich ist dieser unvergessliche 23. April 1961 gekommen, wie ungeduldig haben wir auf ihn gewartet. Es ist außerdem der Geburtstag meines lieben Pierre, er wird 37 Jahre alt und wird ihn in größter Freude mit seinen Freunden aus der Zeit der Deportation feiern. Am frühen Morgen fahren wir also in das 30 km entfernte Oranienburg ab. Wir fahren inmitten einer Kolonne von Bussen und Autos, in denen sich Menschen aus aller Welt befinden. Die Fahrzeuge müssen anhalten, um auf die anderen Delegationen zu warten. Dabei ergeben sich Gelegenheiten zu Wortwechsel und kurzem Austausch: ‚Lulu, ist es möglich – ich habe nie mehr daran geglaubt‘, ‚Lulu, sag’ mir, ob ich träume‘. Nein, diese lieben Menschen, die ehemaligen Deportierten, träumen nicht. Die meisten von ihnen kommen zum ersten Mal nach Sachsenhausen zurück, gequält von ihren Erlebnissen im nationalsozialistischen Konzentrationslager und ihren seelischen Verletzungen, die nicht heilbar sind.

Nun sind wir in Oranienburg. Die Stadt wimmelt von Menschen, eine unübersehbare Menge und zu Tausenden kommen sie vom Bahnhof her. Sogleich werden wir wiedererkannt und erst mit Gebärden, dann mit Händen voller Blumen herzlich begrüßt. Was für ein andersgearteter Empfang ist das für viele der Deportierten, darunter Marcel Suillerot, als der, den er und seine Kameraden im Januar 1943 erlitten haben: grobe Beleidigungen und Steinwürfe. Dann kommt der Augenblick, wo die Deportierten ihre ehemalige Haftstätte betreten. Mein Pierre fürchtet sich davor. Er drückt sich an mich und an seine geliebte Mutter, die mit dem Mut, den sie immer bewiesen hat, ihm zärtlich die letzten Worte wiederholt, die sie ausgesprochen hat, als sie zusammen mit dem Zwillingsbruder gefesselt im Gefängnis waren: „Nur Mut, mein Sohn!“

Vor dem Eingangstor formiert sich unsere Gruppe sehr eindrucksvoll. In diesem Moment fällt mir etwas auf, das für immer in mein Gedächtnis eingeprägt ist: wir stellen uns in Fünferreihen auf, so wie damals. Doch ironische Kommentare werden uns zugerufen: „Nein. Nicht so! Nicht zu fünft!“ Unsere Abordnung ist die einzige, die ihre alte, gestreifte Häftlingskleidung angelegt hat, es sind echte Museumsstücke. Die Wirkung ist ergreifend und die Medien stürzen sich darauf.

Wir gehen schweigend. Wir sind nur 250 Personen, aber es kommt uns vor, als ob alle die 9.400 Französinnen und Franzosen, die nach Sachsenhausen deportiert worden waren, dabei seien und mit uns gingen. So wenige sind zurückgekommen, viele sind kurz nach ihrer Rückkehr in die Freiheit – zu früh – gestorben. Wir durchschreiten den Eingang und es trifft uns wie ein Schlag: zuerst ist es die „Marseillaise“, die aus den Lautsprechern erschallt, um unser Eintreten zu begrüßen, dann die Soldaten, die, unbewaffnet, ein doppeltes Spalier bilden. Die Tränen, die wir nicht zurückhalten können, zeigen unsere tiefe Ergriffenheit. Lieber Dédé Lassague, ich sehe noch Deine Mutter, die bei uns stand, wie untröstlich sie war.

Wir überqueren den Appellplatz mit Andacht und in Gedanken versunken – da trifft uns der zweite Schlag: vor uns steht eine riesengroße Menge von 200.000 Menschen, die den Platz einnehmen, wo früher die Baracken gestanden haben. Als nun alle Franzosen von Sachsenhausen die gleichen Gedanken miteinander teilen, vereint sind wie damals im Lager, vereint wie in unserer Amicale, mit welch großer Freude nehmen sie da die gleichen Gefühle bei ihren ausländischen Kameraden wahr, deren Delegationen nacheinander mit uns zusammentreffen.

Um 11.00 Uhr ertönt die erste Salve wie eine Explosion, gefolgt von 17 weiteren Ehrensalven, womit die Eröffnung der Einweihungsfeier angekündigt ist. Auf der Tribüne haben der Staatsratsvorsitzende der DDR, Walter Ulbricht, sowie die höchstgestellten Persönlichkeiten des Staates, des Militärs und der Kirchen Platz genommen. Letztere haben an diesem Morgen außerhalb der üblichen Zeiten Gottesdienste abgehalten. Aufeinanderfolgend halten die Vertreter von 23 Ländern kurze Ansprachen: aus Albanien, Belgien, Bulgarien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Israel, Italien, Jugoslawien, Luxemburg, den Niederlanden, Norwegen, Österreich, Ost-Deutschland, Polen, Rumänien, Schweden, dem republikanischen Spanien, der Tschechoslowakei, der UdSSR, Ungarn und den USA. Als letzter trägt der Intendant des Deutschen Theaters den „Appell von Sachsenhausen“ vor. Danach stimmt die Musik das Arbeiterlied „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ an, während Bomben aus Kunststoff in den Himmel geschossen werden und bei der Explosion sich 24 Nationalflaggen öffnen, die, an weißen Fallschirmen befestigt, durch die Luft segeln.

Wieder in Reihen aufgestellt, beginnen wir unsere fromme Wallfahrt, es geht zur Station „Z“, zum Obelisken mit seiner steinernen Symbolik. Aber welch eine Überraschung! Die Symbole sind nicht nur in Stein gemeißelt. Dort steht – höchst lebendig – der Kommandant des damaligen sowjetischen Bataillons, welches das Lager befreite. Tränen der Wiedersehensfreude fließen auf seine und der Franzosen Hände, die sich gegenseitig umfassen. Beinahe fällt er um bei dem Ansturm der dankbaren Menschen. Es ist dies ein glücklicher Augenblick, denn er legt Zeugnis ab über die Freundschaft zwischen den Sowjetbürgern und den Franzosen, nicht wahr, mein lieber Mark Tilevich!

Wir Ehefrauen und Witwen und meine anderen Freundinnen können die warmherzigen internationalen Treffen unterstützen, die brüderlichen Umarmungen, die Gespräche in dem speziellen Wortschatz, der nur den ehemaligen Deportierten verständlich ist. Wir wurden Partnerinnen der Zeugen und als solche sehr schnell und begeistert aufgenommen, nicht wahr, liebe Denise Suillerot! Was mich betrifft, so hatte ich große Mühe, mit unseren hochgeschätzten deutschen Kameraden aus Hamburg zu sprechen, die sich mit mir vor dem Obelisken aufstellten und ihre Freundschaft bekundeten, diese unbeugsamen Antifaschisten.

Der 23. April 1961 war ausschlaggebend für die Zukunft unserer Wallfahrten. Ich habe mich mit Leib und Seele und mit größtem Engagement den ehemaligen deportierten Frauen und Männern gewidmet und versuche, ihnen damit meine zutiefst empfundene und größtmögliche, liebevolle Dankbarkeit zu erweisen.“

Zurück zur Übersicht